Welche Rolle spielt die Unterdrückung bei Hahnemann?

 

Wer sich mit klassischer Homöopathie beschäftigt, wird sehr schnell auf den Begriff Unterdrückung treffen. Selbst in der homöopathischen Laienliteratur, d.h. in den vielen Anleitungen zur Selbstbehandlung von Verletzungen, akuten Krankheiten, Kinderkrankheiten usw., wird vor der Unterdrückung von Fieber und Hautausschlägen gewarnt.

 

Hahnemanns Verständnis von Unterdrückung geht darüber aber weit hinaus. In seinen beiden wichtigsten theoretischen Schriften (Organon der Heilkunst; Die Theorie der chronischen Krankheiten) finden sich zahlreiche Hinweise, um welche Art von Unterdrückung es sich handelt, worin ihre Gefahr liegt und welche schwerwiegenden Folgen aus ihr resultieren können.

 

 

Zentraler Gedanke hierbei ist, dass es keine ausschließlich lokalen Erkrankungen gibt (außer Verletzungen), sondern die Ursache stets im Inneren des Organismus zu finden ist.

 

Organon § 187

Ganz auf andre Art entstehen diejenigen, an den äußeren Theilen erscheinenden Uebel, Veränderungen und Beschwerden, die keine Beschädigung von außen zur Ursache haben oder nur von kleinen äußeren Verletzungen veranlasst worden sind; diese haben ihre Quelle in einem innern Leiden. Sie für bloß örtliche Uebel auszugeben und bloß oder fast bloß mit örtlichen Auflegungen oder anderen ähnlichen Mitteln gleichsam wundärztlich zu behandeln, wie die bisherige Medicin seit allen Jahrhunderten that, war so ungereimt, als von den schädlichsten Folgen.

 

 

Diese innere Ursache besteht in einer Verstimmung der Lebenskraft, der Dynamis, die sich uns als äußere, sinnlich wahrnehmbare Symptome zeigt. Oder anders ausgedrückt: Die Gesamtheit aller Symptome zeigt uns die im Inneren bestehende Krankheit.

 

Organon § 11

Wenn der Mensch erkrankt, so ist ursprünglich nur diese geistartige, in seinem Organism überall anwesende, selbsttätige Lebenskraft (…) durch den Einfluss eines Krankmachenden Agens verstimmt.

 

Organon § 6

Der vorurteilsfreie Beobachter (…) nimmt (…) an jeder einzelnen Krankheit nichts, als äußerlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele, Krankheitszeichen, Zufälle, Symptome wahr (…), das ist, Abweichungen vom gesunden, ehemaligen Zustande des jetzt Kranken, die dieser selbst fühlt, die die Umstehenden an ihm wahrnehmen, und die der Arzt an ihm beobachtet.

Alle diese wahrnehmbaren Zeichen repräsentieren die Krankheit in ihrem ganzen Umfange,  das ist, sie bilden zusammen die wahre und einzig denkbare Gestalt der Krankheit.

 

 

Deswegen muss man auch bei der Behandlung die Gesamtheit aller Symptome berücksichtigen, um so das zur Heilung richtige homöopathische Arzneimittel zu finden.

 

Organon §7

Da man nun an einer Krankheit (…) sonst nichts wahrnehmen kann als die Krankheitszeichen (…), so müssen es auch einzig die Symptome sein, durch welche die Krankheit die zu ihrer Hülfe geeignete Arznei fordert und auf dieselbe hinweisen kann, - so muss die Gesamtheit ihrer Symptome S// dieses nach außen reflektierende Bild des inneren Wesens der Krankheit, d. i. des Leidens der Lebenskraft …

 

Nur so kann die Lebenskraft wieder in ihre Balance zurückfinden und Heilung geschehen.

 

 

Wer aber nur einzelne Lokalsymptome ohne Berücksichtigung der Gesamtsymptomatik behandelt (d.h. wer Krankheiten statt Menschen behandelt) stößt auf mehrere schwerwiegende Probleme.

 

 

Zum einen verliert man die Kontrolle über den Heilungsverlauf der inneren, eigentlichen Krankheit, weil deren Ausdrucksmöglichkeit (nämlich die Lokalsymptome der äußeren Schicht) unterdrückt wurde.

 

Ohne äußerlich wahrnehmbare Symptome wie Hautausschläge, Fieber etc. ist kein Rückschluss auf den Zustand der inneren Krankheit möglich. Durch das Fehlen von Symptomen wird möglicherweise Heilung nur vorgetäuscht.

 

Bei korrekter homöopathischer Behandlung jedoch tritt nach Verschwinden des letzten äußerlichen Symptoms die Heilung ein, d.h. die Heilung eines örtlichen Übels durch ausschließlich innere Mittel beweist, dass die innere Krankheit bis zur Wurzel getilgt ist.

 

Organon § 12:

Hinwiederum bedingt aber auch das Verschwinden aller Krankheits-Äußerungen (…) mittels Heilung die (…) Wiederherstellung der Integrität des Lebens-Princips und setzt folglich die Wiederkehr der Gesaundheit des ganzen Organism notwendig voraus.

 

Organon § 200:

Wäre es (Anm.: das äußere Hauptsymptom, s. § 199) bei der inneren Cur noch da, so würde das homöopathische Heilmittel (…) ausgemittelt werden können, und wäre dieses gefunden, so würde bei dessen alleinigem, inneren Gebrauche, die noch bleibende Gegenwart des Local-Uebels zeigen, dass die Heilung noch nicht vollendet sey; heilte es aber auf seiner Stelle, und unangetastet von irgend einem äußeren, zurücktreibendem Mittel, so bewiese dies überzeugend, dass das Uebel bis zur Wurzel ausgerottet und die Genesung von der gesammten Krankheit bis zum gewünschten Ziele gediehen sey.

 

 

Zum anderen wird die Suche nach dem passenden, ähnlichen und damit heilenden homöopathischen Arzneimittel (dem Simillimum) erschwert, wenn die wahlweisenden Symptome verschleiert sind oder gar fehlen.

 

Organon § 147:

Bei welcher unter diesen, nach ihrer Menschenbefindens Veränderungskraft ausgeforschten Arzneien, man nun in den von ihr beobachteten Symptomen, das meiste Aehnliche von der Gesammtheit der Symptome einer gegebnen, natürlichen Krankheit antrifft, diese Arznei wird und muss das passendste, das gewisseste homöopathische Heilmittel derselben sein; in ihr ist das Spezifikum dieses Krankheitsfalles gefunden.

 

 

Das dritte Problem, dass sich bei ausschließlich lokaler Behandlung stellt, ist vielleicht das schwerwiegendste von allen. Die lokalen Symptome erfüllen eine Ventilfunktion und dienen damit der Beschwichtigung der inneren Krankheit.

 

Die Theorie der chronische Krankheiten, S. 37:

Ich werde hier einige (…) Erfahrungen anführen (…) um zu zeigen, mit welcher Wut die innere Psora sich hervortut, wenn ihr das äußere, zur Beschwichtigung des innwohnenden Übels dienende Lokal-Symptom, der Haut-Ausschlag, geraubt wird. Die teils akuten, teils und vorzüglich chronischen Krankheiten, welche von  solcher einseitigen Vernichtung des für die innere Psora beschwichtigend vikariierenden Haut-Symptome (…) entspringen, sind unzählig.

 

Ist die menschliche Lebenskraft nicht mehr in der Lage, sich aus eigener Kraft von der Krankheit zu befreien, so erzeugt sie Lokalübel und verlagert damit die Krankheit von inneren, lebenswichtigen Organen hin zu äußeren, ungefährlichen Stellen des Körpers.

 

Organon § 201:

Offenbar entschließt sich die menschliche Lebenskraft, wenn sie mit einer chronischen Krankheit beladen ist, die sie nicht durch eigene Kräfte überwältigen kann, zur Bildung eines Local-Uebels an irgend einem äußeren Theile, bloß aus der Absicht (…) das innere Uebel zu beschwichtigen und, so zu sagen, auf ein stellvertretendes Local-Uebel überzutragen, es dahin gleichsam abzuleiten. Die Anwesenheit des Local-Uebels bringt auf diese Art die innere Krankheit vor der Hand zum Schweigen, ohne sie jedoch weder heilen, noch wesentlich vermindern zu können…

 

Nimmt man dem Organismus diese Möglichkeit der Beschwichtigung durch sogenannte „Heilung“ eines Lokalübels, so nimmt die innere Krankheit an Schwere zu. Die rein lokale Behandlung stellt eine gefährliche Unterdrückung natürlicher Abläufe dar. Jeder Eingriff in diese natürlichen Abläufe des Organismus sollte sorgfältig überlegt und Risiken abgewägt werden. Genau hierin liegt aber das Problem. Schon zu Hahnemanns Zeiten gab es zahlreiche Therapien, die Lokalsymptome unterdrückten und eine Heilung durch äußerliche Symptomenfreiheit vortäuschten (Palliation).

 

Organon § 52:

Es gibt nur 2 Haupt-Curarten: (…) die homöopathische und (…) die allöopathische. Jeder steht der andern gerade entgegen.

 

Organon § 55:

Da aber bald nach Einführung eines jeden dieser Systeme (…) die Leiden der Kranken sich nur noch vermehrten (…), so würde man schon längst diese allöopathischen Aerzte ganz verlassen haben, wenn nicht die palliative Erleichterung, die sie von Zeit zu Zeit (…) dem Kranken zu verschaffen wussten, ihren Credit noch einigermaßen aufrecht erhalten hätte.

 

Hahnemanns Schriften sind voll von Angriffen gegen unterdrückende, allopathische Methoden und gegen Ärzte, die diese anwenden.

 

 

Die Erfahrungen mit dem Problem der Unterdrückung führten Hahnemann zu weitreichenden Überlegungen darüber, warum selbst korrekte homöopathische Behandlungen bei chronischen Krankheiten keine dauerhafte Heilung erzielen konnten. Er erkannte, dass es ein tiefgreifendes Urübel geben müsse.

 

Die Theorie der chronische Krankheiten, S. 15:

Woher also jener weniger günstige, jener ungünstige Erfolg von fortgesetzter Behandlung der unvenerischen chronischen Krankheit selbst durch die Homöopathie? (…) Warum kann nun diese erfolgreiche Lebenskraft in jenen chronischen Übeln, selbst mit Hilfe der gegenwärtigen Symptome bestens deckenden homöopathischen Arzneien, keine wahre, dauerende Genesung zu Stande bringen?

 

Die Theorie der chronischen Krankheiten, S. 16:

Dieser so natürlichen Frage Beantwortung musste mich auf die Natur dieser chronischen Krankheit hinführen.

 

Die Theorie der chronischen Krankheiten S. 17:

(…) dass der homöopathische Arzt bei dieser Art chronischen Übel (…) es immer nur mit einem abgesonderten Teil eines tief liegenden Ur-Übels zu tun habe,( …) dass er daher sich keine Hoffnung machen dürfe, die einzelnen Krankheitsfälle (…) dauerhaft zu heilen (…), dass er folglich möglichst den ganzen Umfang aller der dem  unbekannten Ur-Übel eigenen Zufälle und Symptome erst kennen müsse.

 

 

Dieses Urübel heilt niemals von selbst sondern hat vielmehr die Tendenz zur stetigen Verschlimmerung bis hin zum Tod.

 

Die Theorie der chronischen Krankheiten, S. 75:

Bei den chronischen miasmatischen Krankheiten (…) zeigt sich jene große, merkwürdige Verschiedenheit von den akuten, dass bei den chronischen Miasmen die innere ganze Krankheit, wie schon gesagt, lebenslang im Organismus verharrt, ja mit den Jahren immer mehr zunimmt, wenn nicht durch die Kunst ausgelöscht und gründlich geheilt wird.

 

Dies war die Geburtsstunde der Miasmenlehre. Aus Krätze, Syphilis und Sykose entstanden durch Unterdrückung der äußerlichen Symptome (Hautausschlag, Ausfluss, Warzen) die drei Miasmen Psora, Syphilis und Sykose, d. h. die unsachgemäße Behandlung dieser Krankheiten führte zu den zahlreichen chronischen, therapieresistenten Krankheiten.

 

Hahnemann beschäftigte sich dabei am intensivsten mit der Psora, der unterdrückten Krätzekrankheit.

 

Die Theorie der chronischen Krankheiten, S. 19:

(…) dass die Verhinderung der Heilung mancherlei Krankheitsfälle in den meisten Fällen, in einem (…) vormaligen Krätz-Ausschlag nur gar zu oft zu liegen schien (…) auch datierte sich gewöhnlich der Anfang aller ihrer nachgängien Leiden von dieser Zeit her.

 

Dabei ist zu beachten, dass die Psora sowohl erworben als auch angeboren, d. h. vererbt, sein kann.

 

Die Theorie der chronischen Krankheiten, S. 20:

(…) und es war mit dann beim Gebrauch dieser Arzneien in ähnlichen chronischen Krankheiten, welchen der Kranke eine solche Ansteckung auch nicht nachweisen konnte, durch die erfolgende Hilfe einleuchtend, dass auch diese Fälle, wo der Kranke sich keiner Ansteckung dieser Art erinnerte, dennoch von der ihm vielleicht schon in der Wiege oder sonst unerinnerlich mitgeteilten Psora berühren müssten …

 

 

Auf dem Hintergrund dieses Wissens erscheinen die unterdrückenden Behandlungen der gegenwärtigen Medizin mit Antibiotika, Cortison, Impfungen u. v. m. noch viel verantwortungsloser und gravierender als bisher angenommen.

 

Ohne die Kenntnis dieser weitreichenden Zusammenhänge ist es kaum verständlich, warum Hautausschläge, Ausfluss, Warzen u. ä. nicht unterdrückt werden dürfen, sondern ganz im Gegenteil eine zur Gesunderhaltung, oder besser gesagt zur Kompensation, nötige Erscheinung darstellen.

 

Dies widerspricht natürlich der gegenwärtig sehr starken Tendenz zur äußerlichen Makellosigkeit. Wer seine Neurodermitis nicht „wegsalbt“ oder eine Warzen nicht wegschneiden lässt, setzt sich dem Unverständnis seiner Umwelt aus. Wer sein Kind nicht impfen lässt, wird gar beschuldigt, verantwortungslos zu handeln. Und nicht nur Krankheitssymptome werden bedenkenlos unterdrückt, sogar natürliche Vorgänge wie die Menstruation gelten als lästig und werden nicht mehr als natürliche Lebensvorgänge verstanden.

 

Dabei erkennt mittlerweile auch die sogenannte Schulmedizin Zusammenhänge zwischen unterdrückter Neurodermitis und gleichzeitig auftretendem Asthma. Dies ist ein klassisches Beispiel für die Folgen von Unterdrückung und zeigt sehr deutlich, dass die Folgekrankheit sehr viel ernster ist als die ursprüngliche Erkrankung. Die Krankheit wird tatsächlich von einer äußerlichen, harmlosen Ebene auf eine innere, schwerwiegende Schicht vertrieben.

 

Interessant ist hierbei ein Blick ins Repertorium. Dort finden sich zahlreiche Beschwerden durch Unterdrückung. Bei Silicea beispielsweise findet man 40 verschiedene Folgen von Unterdrückung. Diese reichen alleine beim unterdrückten Fußschweiß von Ohnmacht bis zum Katarakt.

Nicht zu vergessen sind auch die vielen Beschwerden der Lachesispatientinnen durch unterdrückte oder fehlende Menses. Es ließen sich noch viel mehr Beispiele finden, die zeigen, dass Hahnemanns Theorien kein bloßes Phantasiegebilde darstellen, sondern durch praktische Erfahrungen gestützt werden.

 

 

Homöopathische Therapeuten und Patienten müssen wissen, dass äußere Krankheiten nur durch die Behandlung der inneren Krankheiten geheilt werden können und dass zum Heilungsprozess auch unangenehme Hautausschläge u. ä. gehören können.

 

Aus den Überlegungen Hahnemanns lässt sich die Richtigkeit der Heringschen Regel ableiten. Der Heilungsprozess muss die vorangegangene Unterdrückung rückgängig machen. Dadurch verschwinden die Symptome von innen nach außen, von obern nach unten (weg vom Zentrum hin zur ungefährlicheren Peripherie) oder in der umgekehrten Reihenfolge ihres Auftretens (was unterdrückt wurde, wird wieder sichtbar).

 

Solch eine Behandlung ist eine wirklich homöopathische Therapie, weil sie auf die Genesung des ganzen Menschen von innen heraus zielt.

 

Aus all diesen Überlegungen wird deutlich, dass der Begriff der Unterdrückung ganz wesentlich zum Verständnis von Hahnemanns gesamter Lehre beiträgt. Nur wer dies stets berücksichtigt, wird Krankheiten dauerhaft heilen können.

 

Leider wird die Homöopathie selber viel zu oft als Mittel zur Unterdrückung eingesetzt. Wer mit homöopathischen Arzneimitteln lokal behandelt, der unterdrückt Krankheiten. Wer während einer homöopathischen Behandlung ständig die Mittel wechselt oder sie zu oft einnimmt, der verschleiert das ursprüngliche Symptombild und macht sich genauso der Unterdrückung schuldig wie der allopathische Arzt.

Nicht jeder Schnupfen erfordert den Einsatz eines homöopathischen Mittels. Oftmals sind Bettruhe, ein heißer Tee und Inhalationen vollkommen ausreichend, um Erkältungen zu kurieren. Treten  Komplikationen auf, die der Organismus nicht alleine bewältigen kann, sollte dann das passende homöopathische Mittel gesucht werden.

 

Nicht die homöopathischen Arzneimittel alleine, sondern deren sinnvolle Anwendung nach Hahnemanns Lehren, führen zur Heilung.

 

 

Organon § 53

 

Die wahrhaften, sanften Heilungen geschehen bloß auf homöopathischem Wege (…) auf welchem man am gewissesten schnellsten und dauerhaftesten zur Heilung der Krankheit durch die Kunst gelangt. (…) Die reine homöopathische Heilart ist der einzig richtige, der einzig durch Menschenkunst mögliche, geradeste Heilweg.

 


Literatur:

 

S. Hahnemann:

Organon original, 6. Auflage, Barthel und Barthel Verlag

 

C. Classen:

Hahnemanns Organon der Heilkunst, Sonntag Verlag

 

S. Hahnemann:

Die Theorie der chronischen Krankheiten, Barthel und Barthel Verlag

 

G. Risch:

Homöopathik, Pflaum Verlag München

 

S. M. Gunavante:

Theorie und Praxis der Homöopathie, Hahnemann Institut